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Reichen war sich nicht sicher, was schlimmer war: der hartnäckige Schmerz seiner Schusswunde oder das Zucken seiner Eingeweide, weil er dringend Nahrung brauchte. Eine Sache würde beide Probleme lösen.
Blut.
Er spürte, wie ein Knurren sich den Weg durch seine ausgedörrte Kehle bahnte, als ihm aus allernächster Nähe die Gerüche von Dutzenden von Menschen in die Nase stiegen, zusammengepfercht in einem engen Abteil im Zug nach Harnburg. Die Versuchung, aufzusehen und sich eine passende Beute auszuwählen - der Drang, seinen brennenden Durst zu stillen - , überwältigte ihn fast.
„Kopf runter“, flüsterte Claire ihm zu, ihr Atem strich warm an seinem Ohr vorbei. „Und deine Augen auch, Andre.“
Schlimm genug, dass er verletzt war und blutete und dass er und Claire wie Schornsteinfeger rochen.
Es war nicht ratsam, einen der Passagiere, die mit ihnen im Abteil saßen, einen Blick auf seine transformierten Augen oder sein ungewöhnliches Gebiss erhaschen zu lassen.
Wenigstens hatte seine Wut sich abgekühlt.
Er und Claire waren etwa eine Stunde zu Fuß unterwegs gewesen, bevor der Schein seiner Pyrokinese erloschen war. Es war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als zu Fuß zu gehen. Bis sein Stoffwechsel sich wieder normalisiert hatte, würde alles, was er berührte oder ihm zu nahe kam, zu Asche verbrennen. Das war auch Claire schnell klar geworden, und sie hatte sich vorsichtig auf Distanz gehalten, solange er damit kämpfte, die inneren Mechanismen seines Körpers wieder in den Griff zu bekommen.
Als Stammesvampir wäre es für Reichen trotz seiner Schussverletzung kein Problem gewesen, die zwei Stunden von Roths Landhaus zu seinem privaten Büro in Hamburg zu Fuß zu gehen. Er hätte die Kilometer in einer Geschwindigkeit überwinden können, die menschliche Augen nicht mehr wahrnehmen konnten, aber um nichts in der Welt hätte er Claire allein der Nacht preisgegeben. Nicht nach alldem, was sie durchgemacht hatte. Oder vielmehr, was er ihr zugemutet hatte.
Sie war erschöpft und müde, selbst jetzt, als sie neben ihm im Zug saß, der sie in die Stadt brachte.
Sie hatte kaum Einwände erhoben, als er sie zu dem Dorfbahnhof geführt und gefragt hatte, welchen Zug sie nehmen mussten. Sie hatten kein Geld dabei, also hatte Reichen mit einem kleinen Vampirtrick nachgeholfen. Als der Schaffner gekommen war, hatte Andreas ihn in eine schnelle, aber kurze Trance versetzt, sodass er sie einfach übersehen hatte.
Der Trick hatte ihm fast seine letzte Kraft geraubt, aber wenigstens war Claire jetzt aus der Kälte heraus und konnte sich etwas entspannen. Er dagegen war extrem unruhig.
Reichen drückte sein Kinn auf die Brust und krümmte die Schultern, um seine diversen visuellen Auffälligkeiten vor neugierigen Blicken abzuschirmen.
Sein Durst war eine andere Sache.
Nach dem Feuer wütete er immer am schlimmsten.
Unter normalen Umständen kamen er und seine Art über eine Woche lang ohne Nahrung aus, aber seit dem Angriff auf seinen Dunklen Hafen, als seine tödliche Kraft wiedererwacht war, war sein Durst hartnäckig geworden.
Er spürte ihn fast ständig.
Reichen hatte gesehen, wie andere seiner Art der Blutsucht verfallen waren. Es passierte nicht oft und meistens nur jüngeren Vampiren, denen es an Willenskraft mangelte. Oder denen am anderen Ende des Spektrums, der Ersten Generation des Stammes, deren Blut weniger mit menschlichen Genen verdünnt und dem Blut der Ältesten - der außerirdischen Väter der Vampirrasse auf der Erde - noch ähnlicher war.
Reichens pyrokinetischer Fluch war schlimm genug, aber der Durst, der auf diese Macht folgte, erschreckte ihn genauso wie die Feuer, die er durch seine Willenskraft heraufbeschwören konnte. Und wenn er zumindest sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er zugeben, dass die Feuer immer weniger eine Folge seiner Wut waren und immer mehr zu einem herrschenden Teil seiner Selbst wurden. Seit er vor wenigen Wochen seine Rachemission an Roth begonnen hatte, wurden die Feuer stärker.
Inzwischen genügte schon ein Gedanke, um sie zu entflammen, und sie brannten heftiger und länger, wurden mit jedem Mal explosiver. Und wenn sie sich wieder gelegt hatten, überkam ihn ein Blutdurst, der sich kaum noch ertragen oder stillen ließ.
Er verlor sich an beides, an sein Feuer und seinen Durst, und er wusste es. Wenn er sich jetzt länger in Claires Nähe aufhielt, würde auch sie das zu spüren bekommen.
Dieser Gedanke machte ihm immer mehr zu schaffen, doch Reichen konnte nicht umhin, aus den Augenwinkeln mitzuverfolgen, wie ein junger Typ, der ihm im Abteil gegenübersaß, aufstand und zu einem anderen Sitz hinüberging, der beim letzten Halt frei geworden war. Reichen folgte dem jungen Mann mit einem Raubtierblick und bemerkte, dass dieser seine Umgebung kaum wahrnahm, als er sich auf den Sitz fläzte.
Aus weißen Kopfhörern drangen blecherne Klänge der Musik, mit der der Mann sich das Hirn beschallte.
Mürrisch spähte er unter seinen überlangen, strähnigen schwarzen Haaren hervor, völlig auf den Touchscreen seines iPhones konzentriert. Offenbar war er mit einer wichtigen SMS beschäftigt.
Reichen sah ihm mit dem wachen Interesse eines Löwen zu, der Wild an der Wasserstelle beobachtet.
Sein Jagdinstinkt war geweckt, schon hatte er die leichteste Beute von der Herde der Reisenden abgesondert. Der Zug wurde langsamer. Als er in einen Bahnhof einfuhr, stand der Mann auf. Reichens Muskeln spannten sich reflexartig an. Er machte Anstalten, ihm zu folgen, sein Hunger beherrschte ihn, aber Claires Hand senkte sich sanft auf seinen Unterarm.
„Noch nicht. Wir steigen erst eine weiter aus.“
Er setzte sich wieder und verbiss sich ein verärgertes Knurren, als sich die Zugtüren schlossen und seine geplante Mahlzeit ahnungslos in die Menge hinausschlenderte, die sich eben auf den Bahnsteig ergoss.
Wenige Minuten später hatten er und Claire ihren Bahnhof erreicht. Sie stiegen aus dem Zug und gingen den Rest des Weges zu Fuß zu Hamburgs alter Speicherstadt. Von Kanälen durchzogene Reihen hoher Ziegelgebäude glänzten hell erleuchtet gegen den Nachthimmel, und die frische Brise brachte ein Duftgemisch von Kaffeebohnen und Gewürzen mit sich, als Claire ihn über eine geschwungene Brücke und dann tiefer in das historische Viertel führte. Den Düften nach wurden einige der neugotischen Gebäude immer noch als Warenspeicher genutzt; andere waren in Geschäfte umgebaut worden, wo man nun mit edlen Orientteppichen handelte. Claire ging noch einige Straßen weiter und blieb dann vor einem Gebäude mit Klinker- und Kalksteinfassade stehen, das sich in nichts von seinen Nachbarn unterschied. Drei Betonstufen, von zierlichen schmiedeeisernen Geländern flankiert, führten hinauf zu einer Haustür ohne Aufschrift oder Nummer.
„Das Haus gehört Roth?“, fragte Reichen, als sie auf der obersten Stufe angekommen waren.
Sie nickte. „Eines von mehreren privaten Büros, die er in der Stadt unterhält. Bekommst du die Schlösser auf?“
„Wenn nicht mental, dann mit Gewalt.“ Er stellte sich vor sie und sandte den Bolzenschlossern an der Tür einen mentalen Befehl, beschoss sie mit der Kraft seines Willens und gab dabei acht, das Feuer nicht zu wecken, das immer noch am Rand seiner Selbstbeherrschung lauerte und nur auf einen Grund wartete, wieder aufzuflammen.
Mit einer Reihe von metallischen Klicks sprangen die Bolzenschlösser auf, und die Tür öffnete sich langsam einen Spalt.
Als Claire Anstalten machte, an ihm vorbei hineinzugehen, hielt Reichen sie mit einem Blick zurück. „Warte hier. Ich muss erst sehen, ob es sicher ist.“
Er erkannte die Ironie in seinem Beschützerverhalten, als er das dunkle Gebäude betrat und es nach möglichen Gefahren absuchte.
Hier auf weitere Agenten zu stoßen wäre definitiv ein Problem, aber die weitaus schlimmste Gefahr für Claires Sicherheit war er selbst. Besonders in diesem ausgehungerten Zustand.
„Es ist sauber“, sagte er zu ihr, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass das stille Gebäude leer war. Er knipste einen Lichtschalter für sie an, als sie eintrat.
Roth hatte das Haus nach seinem persönlichen Geschmack eingerichtet, einer unvereinbaren Mischung von altertümlicher Eleganz und modernem Minimalismus. Schicke Möbel aus Chrom und Glas wetteiferten mit exquisiten Antiquitäten. Die Bilder an den Wänden waren erstklassig, doch auf jedem Gemälde war eine Szene von entsetzlicher Brutalität dargestellt. Todesszenen schien er besonders zu schätzen. Egal, ob es sich dabei um Männer, Frauen oder Tiere handelte; was Gewaltdarstellungen anging, war Roth offenbar nicht wählerisch.
„Wie oft übernachtet er hier?“, fragte Reichen, dem nicht entgangen war, dass das ganze obere Stockwerk von einem Schlafzimmerloft eingenommen wurde.
„Oft. Zumindest soweit ich weiß“, sagte Claire ruhig, aber ohne Bitterkeit. Sie ging zu einem Arbeitstisch mit Computer hinüber und schaltete ihn ein. Während das Gerät hochfuhr, öffnete sie eine der Schreibtischschubladen und begann, den Inhalt durchzusehen. „Ich weiß aber, dass seine Arbeit für die Agentur ihn auch ab und an nach Berlin führt.“
Reichen sah zu ihr auf, sah den Zweifel in ihren sanften braunen Augen. Claire wollte seine Anschuldigungen gegen ihren (Gefährten nicht glauben, doch nun hatte sie zumindest mit einem gewissen Maß an Ungewissheit bezüglich Wilhelm Roth zu kämpfen.
„Wie geht es deiner Wunde?“, fragte sie und wirkte reuig, obwohl sie keinen Grund dazu hatte.
Reichen zuckte mit seiner heilen Schulter. Die Kugel war glatt durchgegangen; sobald er Nahrung zu sich genommen hatte, würde der Heilungsprozess sich weiter beschleunigen. „Ich werde es überleben“, sagte er. „Lang genug, um zu tun, was getan werden muss.“
Er konnte sehen, wie sie schluckte. „Wann wirst du mit alldem aufhören, Andre? Wie viele Leute sollen denn noch sterben?“
Seine Antwort war grimmig und entschlossen. „Nur noch einer.“
Sie hielt seinem festen Blick stand. „Was wirst du tun, wenn sich herausstellt, dass deine Anschuldigungen gegen ihn falsch sind?“
„Was wirst du tun, wenn sich herausstellt, dass sie wahr sind?“
Sie sagte nichts, als er zu ihr herüberkam, wich nur ein paar Schritte zurück, um ihm Zugang zu dem Computer und der Handvoll Visitenkarten und Quittungen aus der Schublade zu geben, die sie auf dem Tisch ausgeleert hatte. Reichen rief Roths EMail - Programm auf und begann, seine Unterlagen durchzusehen - wonach er suchte, wusste er selbst nicht so genau.
Hinweise auf Roths Aktivitäten, seine Kontakte.
Spuren, wo er sich derzeit befand. Irgendwas.
Was er vor allem tun musste, war, sich darauf zu konzentrieren, warum er hier war, statt auf das überdeutliche Bewusstsein der körperlichen Nähe Claires - eine Wärme und Präsenz, die ihm bis ins Mark gingen. Er musste sich so anstrengen, seine instinktive Reaktion auf sie auszublenden, dass er das Durcheinander von Visitenkarten auf Roths Schreibtisch dreimal durchsah, bevor sein Blick auf das Kärtchen aus silbernem Pergament mit eleganter, schlichter schwarzer Schrift fiel.
Er fischte es aus der Sammlung und las, was darauf stand, obwohl er den Namen und die Adresse auswendig kannte. Auch wenn es ihn eigentlich nicht überraschte, diese Karte unter Roths Habseligkeiten zu finden, gefror ihm das Blut in den Adern.
„Was hast du gefunden?“, fragte Claire, die seine plötzliche Anspannung spürte. Sie kam näher, spähte um ihn herum auf das durchscheinende Kärtchen in seiner Hand.
„Aphrodite. Was ist das?“
„Ein Club in Berlin“, erwiderte Reichen. „Ein exklusives, sehr teures Bordell.“
Er warf Claire einen Blick zu, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihre Neugier einem stummen Unbehagen wich. „Wilhelm hat es nie an willigen Partnerinnen gefehlt. Es wäre unter seiner Würde, dafür zu bezahlen. Dass er diese Karte hat, hat nichts zu bedeuten.“
„Es bedeutet, dass er dort war“, sagte Reichen. „Um das zu beweisen, brauche ich diesen Papierfetzen nicht. Die Besitzerin von Aphrodite und ich waren... befreundet. Ich habe Helene bedingungslos vertraut.“
Claire sah einen Augenblick zur Seite. „Ich habe vor einer Weile gehört, dass du mit einer Sterblichen zusammen warst. Einer von vielen, wie man hört.“
Er ließ die Bemerkung unerwidert, war aber überrascht zu hören, dass sie über sein Privatleben auf dem Laufenden war.
Und ja, über die Jahre hatte es viele Frauen in seinem Leben gegeben, eine lange Reihe unbedeutender, schnell vergessener Affären, auf die er nicht stolz war, schon damals und auch jetzt nicht.
Besonders jetzt nicht.
Aber Helene hatte er mehr respektiert als all die anderen Frauen, die er sich in sein Bett oder unter seine Fänge geholt hatte. Sie war eine enge Vertraute für ihn geworden, obwohl selbst sie nichts von seiner dunkleren, tödlichen Seite geahnt hatte, die er so mühsam unterdrückt hatte.
„Helene war ein guter Mensch. Sie wusste über mich Bescheid, und mein Geheimnis war bei ihr sicher. Sie hat mich auch über die Geschehnisse in ihrem Club auf dem Laufenden gehalten. Vor einer Weile sagte sie mir, dass eine ihrer Angestellten eine Affäre mit einem wohlhabenden, einflussreichen Mann angefangen hatte. Diese Angestellte erschien öfters mit Bisswunden am Hals bei der Arbeit und wenig später verschwand sie spurlos. Ich habe Helene gebeten, mehr darüber herauszufinden, und sie stieß auf einen Namen: Wilhelm Roth.“
Claire runzelte die Stirn. „Nur weil dieses Mädchen vielleicht manchmal mit ihm zusammen war, heißt das noch nicht, dass er sie getötet hat.“
„Dabei hat er es nicht belassen“, sagte Reichen mit angespannter Stimme. „Als ich in einer anderen Angelegenheit verreist war, tauchte Helene in meinem Dunklen Hafen auf. Jemand ließ sie herein, weil er nicht erkannte, dass es ein Hinterhalt war.
Helene war zu einer Lakaiin gemacht worden. Ihr Meister hat sie mit einer Einheit von bewaffneten Killern zu meinem Zuhause geschickt - einer Todesschwadron der Agentur. Sie haben alle umgebracht, kaltblütig erschossen, Claire. Sogar die Kinder.“
Bestürzt starrte sie ihn an, schüttelte langsam den Kopf. „Nein, es war eine Explosion. Ein schreckliches Feuer...“
„Ja, es gab ein Feuer.“ Reichen nahm sie an den Armen, als seine Wut bei der Erinnerung wieder aufzuflackern begann. „Ich habe das Haus in Brand gesteckt, aber erst, als ich nach Hause kam und das Gemetzel vorfand. Und Helene erwartete mich schon, über und über bespritzt vom Blut meiner Verwandten. Sie hat mir gesagt, wer sie gemacht hat, Claire... Ich habe sie von ihrem Leiden erlöst und dann mein Zuhause und all die armen Toten darin zu Asche verbrannt.“
In Claires sanften braunen Augen schwammen plötzlich Tränen, doch sie sagte nichts, da war kein Leugnen, keine Ungläubigkeit. Keine einzige Silbe, um ihren Gefährten in Schutz zu nehmen.
„Andre...“
Sie hätte ihn nicht berühren dürfen. Als er plötzlich ihre warme Handfläche auf seiner Wange spürte, war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Er hatte sie vom ersten Augenblick an begehrt, seit er sie wiedergesehen hatte. Wenn er ehrlich war, schon um einiges länger.
Reichen legte die Hand um ihren Nacken und zog sie an sich, senkte den Kopf und presste seinen Mund auf ihren. Es gab kein Zögern, kein tastendes Suchen, als ihre Lippen sich trafen und in einem fiebrigen Kuss vereinten, der sich so vertraut und richtig anfühlte, wie er verboten war.
Claire.
Himmel noch mal.
Er hatte fast vergessen, wie es sich anfühlte, sie in den Armen zu halten, zu küssen. Sie zu begehren mit einer Wildheit, so sengend heiß wie Lava in seinem Bauch. Sein Körper erinnerte sich an all die Arten, wie sie ihn damals zum Brennen gebracht hatte.
Erregung durchzuckte ihn, verwandelte sein Blut in Feuer und seinen Schwanz in gehärteten Stahl. In diesem Augenblick war ihm egal, dass er verletzt war und blutete und versessen auf Rache war.
Ihm war egal, dass sie einem anderen gehörte - seinem tückischsten Feind. Alles, was jetzt noch für ihn zählte, war die Hitze von Claires Mund auf seinem, den warmen Druck ihrer Rundungen an seinem Körper zu spüren.
Er wollte mehr.
Er wollte sie ganz, und nun packte ihn der Hunger, der ihn so gnadenlos quälte, noch brutaler. Sein Magen verkrampfte sich und brannte. Seine Fangzähne schossen noch weiter aus seinem Zahnfleisch hervor, die scharfen Spitzen pulsierten jedes Mal, wenn ihre Lippen feucht und leidenschaftlich die seinen streiften.
Er wollte sie schmecken. Oh Gott, er wollte in ihr ertrinken, hier und jetzt.
Sie sollte ihm gehören. Dieser Kuss sagte ihm, dass sie immer noch ihm gehörte, auch wenn das Gesetz des Stammes und die Blutsverbindung, die sie mit einem anderen eingegangen war, es verboten.
Sie würde immer ihm gehören...
Nein.
Reichen knurrte, entriss ihr seinen Mund und schob sie grob und mit zitternden Händen von sich. Sein Brustkorb hob und senkte sich wild, sein Atem fuhr ihm zischend durch Zähne und Fänge. Die Schusswunde in seinem Oberkörper schmerzte wieder wild, noch heftiger von dem wilden Hunger, der in seinen Venen dröhnte. Der Raum fühlte sich zu heiß, zu stickig an. Er musste sich abkühlen, bevor seine hauchdünne Selbstbeherrschung ihn vollends im Stich ließ.
Claire starrte ihn an, die Finger an ihren von seinem Kuss geröteten Mund gepresst, als wüsste sie nicht, ob sie aufschreien oder losweinen sollte.
„Ich brauche frische Luft“, murmelte er. „Himmel, es war ein verdammter Fehler, mit dir hierher zukommen. Ich muss schleunigst hier raus.“
„Andreas.“ Er fuhr herum, auf die Tür zu, aber kaum war er einige Schritte weit gekommen, stand Claire schon hinter ihm. „Wo willst du hin? Bitte rede mit mir.“
Er ging weiter und hoffte inständig, dass sie ihn jetzt einfach gehen ließ. Er wollte, dass Roth für seine Taten bezahlte, aber hatte er wirklich das Recht, dabei auch noch Claire zu vernichten? Ein selbstsüchtiger Teil von ihm war der Ansicht, dass es eigentlich nur fair wäre, sich Roths Gefährtin als Siegestrophäe zu nehmen. Was konnte eine bessere Rache sein, als den korrupten Bastard zu ruinieren und ihm auch die Frau wegzunehmen?
Himmel.
Daran wollte er nicht einmal denken.
So verlockend der Gedanke auch war, darum ging es hier nicht. Er hatte vor Jahrzehnten alles unternommen, um Claire vor dem tödlichen Monster in Sicherheit zu bringen, zu dem er geworden war.
Das hatte er damals nicht getan, nur um jetzt zurückzukommen und sie doch noch zu zerstören... oder?
„Andreas, bitte lass mich nicht so stehen.“ Ihre Stimme verfolgte ihn, als er die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen. Sie stieß ein ersticktes, humorloses Lachen aus, voller Schmerz und beißendem Hohn. Als sie endlich ihre Stimme wiederfand, war sie leise vor Verachtung. „Verdammt sollst du sein. Wie kannst du nach all diesen Jahren noch immer diese Gefühle in mir wecken? Verdammt sollst du sein, dass du mich damals verlassen hast und jetzt zurückkommst, gerade als ich dachte, du wärst für immer fort und ich könnte dich endlich vergessen.“
All seinen Instinkten zum Trotz, die ihm zuschrien, einen Fuß vor den anderen zu setzen und seine tödliche Angelegenheit mit Roth weit weg von Claire zu erledigen, blieb Reichen stehen. Ihr war nicht klar, wie gefährlich er in diesem Augenblick für sie war.
Oder vielleicht wusste sie es doch, war aber zu durcheinander und verärgert, um sich etwas daraus zu machen.
Sie schöpfte hörbar Atem und stieß dann einen resignierten Seufzer aus. „Verdammt sollst du sein, Andre, dass du hier stehst und mich dazu bringst, jede Entscheidung anzuzweifeln, die ich je getroffen habe.“
Er drehte sich zu ihr um, um sich ihrer berechtigten Empörung zu stellen. Aber als er sie ansah, überkam ihn eine Welle von Blutdurst, sein körperlicher Drang nach Nahrung lag im Kampf mit dem körperlichen Begehren, das keine kalte Nachtluft abkühlen würde.
Sie war so wunderschön und so stark. So gut und ehrlich. Und jetzt so wütend auf ihn; das wilde Klopfen ihres Pulses an ihrem samtigen hellbraunen Halsansatz bezeugte das nur allzu deutlich.
Reichen konnte den Blick nicht vom gleichmäßigen Hämmern ihres Herzschlags losreißen.
Das Feuer hatte seinen Tribut gefordert, genauso wie die Schusswunde in seiner Brust. Er konnte sich nicht länger beherrschen; sein Durst hatte seinen Willen besiegt. Das war alles, was er wusste, als er sich auf Claire zubewegte, alles an ihm, das Vampir und Mann war, war völlig auf diese Frau konzentriert.
„Warum hast du mich verlassen?“, fragte sie, als er sich ihr näherte.
Er grunzte, genoss den Vanilleduft ihres Blutes, das unter der Oberfläche ihrer zarten Haut floss.
„Um dich zu schützen.“
Sie runzelte zweifelnd die Stirn. „Wovor?“
„Vor meiner schlimmsten Seite.“
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich hatte nie Angst vor dir, Andre. Ich habe immer noch keine Angst.“
„Solltest du aber, verdammt... Frau Roth.“
Er bleckte die Fänge und nagelte sie im bernsteinfarbenen Schein seiner transformierten Augen fest - eine kurze Warnung, genug für sie, um vor ihm zurückzuweichen, ihn zu schlagen oder zu schreien. Sie konnte nicht wissen, wie schwer es ihm fiel, ihr auch nur so viel zuzugestehen. Er kam näher, verstellte ihr mit seinem Körper den Fluchtweg, und selbst jetzt noch sagte er sich, dass er noch Ehrenmann war, dass das Feuer, das in ihm brannte, seine Menschlichkeit noch nicht vollkommen fortgebrannt hatte.
Doch das war eine Lüge.
Dieser letzte Hoffnungsschimmer verlosch in dem Moment, als seine Fänge in das zarte Fleisch von Claires Hals bissen.
Sie keuchte. Ihre Hände hoben sich zu seinem Körper, der hart gegen sie drückte, ihre Handflächen flach auf seinem Brustbein. Er spürte ihre plötzliche Anspannung, ihren Schock und den Adrenalinstoß, als er sie in seinen Armen fing und den ersten Schluck von ihrem warmen, nährenden Blut in seinen Mund sog.
Zuerst trank er mit rasendem Hunger, Schluck um Schluck getrieben vom Urtrieb nach Nahrung. Aber als er so aus Claires Vene trank, begann er durch den Nebel seines vom Blut berauschten Verstandes, etwas... anderes zu fühlen.
Der Duft ihres Blutes überflutete ihn wie eine Welle, stieg ihm in den Kopf wie ein köstlicher Rausch. Der schnelle Takt ihres Pulses auf seiner Zunge wurde nun zu einem Dröhnen in seinen Eingeweiden, das in seinem eigenen Blut widerhallte.
Ein besitzergreifendes Gefühl erhob sich in ihm, dunkel und gefährlich. Er hielt sie fest in den Fängen, genoss ihren Geschmack, und sein Schwanz wurde steif von dem Drang, sie auch auf eine andere Art in Besitz zu nehmen.
Er spürte, wie ihre Finger sich in seinen Rücken krallten, als er von ihr trank, ihr Atem ein leises, flaches Keuchen an seinem Ohr. Seine Sinne füllten sich mit ihr. Ein tiefes, mächtiges Summen floss in ihn, durchflutete jede Zelle seines Körpers. Und drang noch tiefer, in jede Faser seiner Seele, in den Kern seines ganzen Wesens ein.
Claire war die erste, die einzige Stammesgefährtin, von der er je getrunken hatte, und nun würde es keine andere mehr für ihn geben, solange sie lebte.
All seine Stammesinstinkte erwachten mit einem Mal, als hätte er sein ganzes Leben in einem Tiefschlaf verbracht, und wurden nun erfüllt von einem tief gehenden Gefühl der Nähe zu dieser Frau - jetzt und für immer. Ein ewiger Stempel, eine Verbindung, durch Blut geschaffen. Eine Verbindung zu ihr, die nicht mehr rückgängig zu machen war - außer durch den Tod, seinem oder ihrem.
„Andreas.“
Claires leiser Kummerschrei durchfuhr ihn wie ein Messer.
Entsetzt darüber, was er ihr eben angetan hatte - ihnen beiden - , fuhr er mit der Zunge über ihre Wunde und versiegelte sie, dann taumelte er zurück.
Ihre Wangen waren tief gerötet, ihr Atem ging keuchend durch ihre offenen Lippen, als sie ihn schockiert anstarrte. Reichen spürte ihre Angst wie seine eigene, jede intensive Emotion, die sie von jetzt an empfand, würde nun auch seine sein.
„Andre“, flüsterte sie und hob die Hand, um die Bisswunde zu berühren, die schon verheilte. Ihr Gesicht war verzerrt, sie wirkte unglücklich und verwirrt. „Oh mein Gott... was hast du getan?“
Er ging einen Schritt zurück, wie vernichtet vor Scham.
Claire gehörte einem anderen Mann. Nicht ihm. Sie hatte sich Roth gegeben, ob es Reichen passte oder nicht. Sie war schon in einer Blutsverbindung mit Roth, wie auch Roth mit ihr. Jetzt hatte Reichen dieses Sakrament gewissenlos gebrochen und sich gewaltsam in diese Verbindung hineingedrängt.
Indem er von Claire getrunken hatte, hatte er sich unwiderruflich an sie gebunden.
Er würde immer von ihr angezogen sein. Sie immer in sich spüren. Es war das heiligste Geschenk, das eine Stammesgefährtin einem Mann seiner Spezies machen konnte, und er hatte es sich aus reiner, egoistischer Gier einfach genommen - es gestohlen.
„Vergib mir, Claire“, murmelte er. Angeekelt von sich selbst, weil er sie so heftig begehrte, mit oder ohne die dröhnende Intensität einer Blutsverbindung, wich er weiter vor ihr zurück und schob sich langsam rückwärts auf die Tür zu. „Ach, Himmel... bitte, vergib mir.“